Medizinische Versorgungsstrukturen im Bereich HIV/AIDS – Quantitative und qualitative Entwicklungen und Herausforderungen 2025

Die HIV-Versorgung in Deutschland steht vor großen strukturellen Herausforderungen. Ein nun veröffentlichtes, über 300 Seiten starkes Gutachten zeigt: Die Zahl der Patient*innen wächst stetig, doch das Versorgungssystem stößt zunehmend an seine Grenzen – insbesondere, weil nicht genügend spezialisierte Ärzt*innen nachrücken.

Das Gutachten wurde vom IGES Institut in Kooperation mit dem Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland durchgeführt und von der Deutschen AIDS-Stiftung (DAS), der Deutschen AIDS-Gesellschaft (DAIG) und der dagnä (Deutsche Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzt*innen in der HIV-Medizin) in Auftrag gegeben.

Es analysiert bundesweit die ambulante und stationäre HIV-Versorgung, die Entwicklung der PrEP-Vergabe, demografische Veränderungen sowie die regionale Verteilung der Angebote. Grundlage bilden Abrechnungsdaten der Jahre 2014 bis 2023 sowie die Ergebnisse einer Onlinebefragung unter Menschen mit HIV.

Das Gutachten wurde am 10. Juli 2025 ab 11 Uhr im Rahmen der Veranstaltung Forum HIV 2025 in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Langfassung findet sich auf der Website der dagnä.

Immer mehr Patient*innen, zu wenig Fachpersonal

Die Zahl der ambulant versorgten HIV-Patient*innen stieg von 63.517 im Jahr 2014 auf 84.431 im Jahr 2023 – ein Plus von rund 33 %. Parallel dazu nahm auch die Zahl der Patient*innen mit spezialisierter HIV-Schwerpunktversorgung von knapp 49.500 auf über 68.000 zu. Für das Jahr 2035 wird ein weiterer Anstieg um etwa 40 % prognostiziert. Besonders betroffen ist die Gruppe älterer Patient*innen mit komplexen Begleiterkrankungen.

Gleichzeitig stagniert die Zahl der HIV-Schwerpunktpraxen – viele Ärzt*innen stehen kurz vor dem Ruhestand. Berechnungen zufolge könnte sich die Versorgungslücke auf bis zu 130 fehlende HIV-Ärzt*innen im Jahr 2035 belaufen – das entspräche einem Defizit von etwa 26 %.

HIV-Versorgung hängt stark vom Wohnort ab

Das Gutachten macht eine deutliche Konzentration der Versorgung in urbanen Zentren aus. Die Folge: Viele Patient*innen müssen lange Anfahrtswege in Kauf nehmen – insbesondere ältere Menschen und Menschen mit Begleiterkrankungen empfinden das als große Belastung. In einer im Rahmen des Gutachtens durchgeführten Onlinebefragung mit etwa 700 Teilnehmenden gaben rund 20 % der Menschen mit HIV an, Schwierigkeiten beim Zugang zu einer spezialisierten Praxis zu haben.

„Wir wissen, dass wir bisher viel erreicht haben, aber um diese Qualität zu sichern, brauchen wir belastbare Strategien für die Zukunft“, sagt dagnä-Vorstandsmitglied Dr. Markus Bickel. Besonders betroffen sei die alternde HIV-Patient*innengruppe, für die komplexe medizinische Betreuung notwendig werde – etwa bei Stoffwechselerkrankungen, Depressionen oder Pflegebedürftigkeit.

Die Analyse zeigt außerdem: Die PrEP zur HIV-Prophylaxe wird bislang vor allem von Männern in Großstädten genutzt. Auch wenn sich die PrEP-Versorgung in den letzten Jahren deutlich ausgeweitet hat, bleibt der Zugang regional sehr unterschiedlich. Menschen in strukturschwachen Regionen sowie Frauen, trans und nicht-binäre Personen sind deutlich unterrepräsentiert.

Herausforderungen im Krankenhausbereich

Auch im stationären Bereich zeigt sich ein uneinheitliches Bild. Zwar ist die Zahl der stationären HIV-Fälle rückläufig, zugleich steigt aber der Anteil älterer Patient*innen und von Patient*innen mit Begleiterkrankungen. Kliniken mit infektiologischer Expertise sind ungleich verteilt, was zu Schwankungen in der Versorgungsqualität führt. In den meisten Fällen erfolgt eine stationäre Aufnahme nicht aufgrund von HIV, sondern wegen anderer chronischer Erkrankungen bei bestehender HIV-Diagnose.

„Um den Bedarfen älter werdender Menschen mit HIV gerecht zu werden, ist Vernetzung dringend notwendig“, erklärt Heike Gronski, Referentin für Leben mit HIV bei der Deutschen Aidshilfe. Bereits jetzt gebe es große Lücken in der Versorgung. „Wir müssen daher unverzüglich damit beginnen, die HIV-Fachversorgung, Pflege und Begleitung durch Beratungsstellen enger zusammenzubinden.“ Denn: „Nur so kann eine diskriminierungsfreie und qualitativ hochwertige Versorgung für diese zunehmend größere Patient*innengruppe sichergestellt werden.“

Auch die psychosoziale Betreuung gerät zunehmend unter Druck. Diese stand zwar nicht im Zentrum des Gutachtens, dennoch betonen die Autor*innen deren zentrale Bedeutung für eine umfassende Versorgung.

Empfehlungen:  Nachwuchsförderung, Telemedizin, sektorenübergreifende Versorgung

Das Gutachten formuliert einen umfassenden Katalog an Handlungsempfehlungen. Die wichtigsten Punkte sind:

  • Nachwuchsförderung: HIV-spezialisierte Medizin soll in Aus- und Weiterbildung besser verankert werden, um junge Ärzt*innen für dieses Fach zu gewinnen.
  • Strukturausbau in ländlichen Regionen: Telemedizinische Angebote, Fahrtkostenerstattungen und neue Kooperationsmodelle sollen Versorgungslücken in dünn besiedelten Regionen schließen.
  • Stärkere Verzahnung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung: Gerade bei komplex erkrankten und älteren Patient*innen sind nahtlose Übergänge entscheidend.
  • Ausbau der PrEP-Versorgung: Die Präexpositionsprophylaxe zum Schutz vor HIV muss gezielter und inklusiver gestaltet werden, um bislang unterversorgte Gruppen besser zu erreichen.
Veröffentlicht in AG1, AG2, AG4, Allgemein, Informationen.

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